So lautet die Zeit im Sommer, an denen sich das Quecksilber im Thermometer träge, aber unweigerlich über die 30-Grad-Marke bewegt. Sie ist durch sengende Hitze gekennzeichnet, die nicht selten durch eine tropische Luftfeuchtigkeit gesteigert wird. Die Wiesen und Äcker verwandeln sich in staubige Steppen und Wüsten, und die Zahl verendeter Pflanzen steigt ebenso an wie die der Rettungsdiensteinsätze aufgrund kollabierender Kreisläufe.
Angesichts dieser präapokalyptischen Temperaturen verwundert es nicht, daß trotz enorm erhöhten Flüssigkeitskonsums mein Verstand schließlich seinen Dienst bis auf weiteres einstellte. Jedoch erfreute sich der Rest des Gehirns - wahrscheinlich, weil er jetzt wieder etwas Luft hatte - weiterhin seines tadellosen Zustandes, so daß ich die folgenden Begebenheiten bei vollem Bewußtsein miterleben mußte. Ich begab mich nämlich trotz besseren Wissens in eine Welt des Grauenhaften und des Abartigen, genauer gesagt: in das Höhenfreibad im nächsten Ort.
Ein Freibadbesuch ist eigentlich nichts Besonderes. Es gibt in der Umgebung Dutzende von Freibädern: kleine, kostenlose Badewannen ebenso wie mächtige Mineralwasserpaläste, familiäre Freibecken ebenso wie spritzige Spaßbäder, nicht zu vergessen die ganz normalen Freibäder, wie sie in jeder größeren Ortschaft zu finden sind.
Es gibt jedoch auch noch ein anderes Freibad: das Höhenfreibad direkt in der Nachbarstadt. Und genau dort fand ich mich mitten in der größten Hitze wieder.
Das Höhenfreibad ist oberhalb eines größeren Parks gelegen, der schon zwei Gartenschauen überstanden hat. Er ist immer noch gut gepflegt, ohne dabei in die Sterilität einer barocken Anlage auszuarten. Wer jedoch denkt, daß man von einem HÖHENfreibad eine wunderbare Aussicht auf den Park und die Stadt hätte, wird eines Besseren belehrt. Weiter als bis zum Zaun sieht man nämlich nicht.
Stattdessen besteht die einzige Auswirkung der gehobenen Lage darin, daß jeder Weg zum Freibad nach oben führt. Dementsprechend stark sind auch die Abgasschwaden auf dem Weg zum Eingang.
An der Kasse angekommen, erhält man nach kurzer Wartezeit gegen ein geringes Entgelt eine (echte!) Eintrittskarte. Schon dies ist ein bemerkenswerter Anachronismus, da man heutzutage außer dem Einlaß entweder gar nichts bekommt oder gleich eine Chipkarte erhält.
Interessanterweise befindet sich direkt neben der Kasse eine Person, die nichts Besseres zu tun hat, als die Karten unbesehen wieder zu zerreißen und in einen Papierkorb zu werfen. Diese Kartenkontrolle ist jedoch völlig absurd, weil man so oder so nicht in das Freibad kommt, ohne an der Kasse warten zu müssen. Der Einlass ist einfach nicht breit genug, um mehrere Leute aneinander vorbeikommen zu lassen.
Unter normalen Umständen wäre spätestens jetzt in meinem Gehirn eine laute Alarmglocke Amok gelaufen. Aufgrund der Hitze beschlossen die Neuronen jedoch lieber Karten zu spielen und mich ungehindert der baren Realität auszuliefern. Immerhin weiß ich jetzt, was das lokale Arbeitsamt unter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versteht.
Je weiter man sich in das Herz der Anlage hineinbewegt, desto stärker wird man von der Atmosphäre eines Bades umwoben, daß seine Wurzeln in den späten 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hat. Die gesamte Gestaltung wurde ebenso wie die Bausubstanz seit den Gründertagen unverändert beibehalten, selbst die Stammgäste sind noch unverändert am selben Platz installiert. Dementsprechend dürften sich auch bald Botaniker um die Fußbäder an den Duschen reißen, eine schönere Fußpilzzucht gibt es woanders bestimmt nicht zu sehen.
Die Besucher kommen zu einem großen Teil aus einem nahe gelegenen Stadtteil, der aufgrund seiner Sozialstruktur sowohl von der Stadtverwaltung als auch vom Fremdenverkehrsbüro geflissentlich ignoriert wird. Wahrscheinlich investiert die Stadt in den Park unterhalb des Bades pro Jahr mehr Steuergelder als in den erwähnten Randgruppenbezirk in zehn Jahren. Wie man sich anhand der Besucher des Bades überzeugen kann, ist das auch eine sinnvolle Entscheidung.
Auf dem Weg zum Imbiß kommt man unweigerlich an den Stammgästen vorbei. Diese sind ein fester Bestandteil des Mobiliars, und damit sie nicht gestohlen werden, sind sie mit mächtigen Wampen versehen, die beständig mit Bier aus der Kühlbox gemästet werden. Ein besonderes Prachtexemplar besitzt sogar einen Fidel-Castro-Bart, vermutlich weil er bei der Einweihung des Bades vergessen hat, seinen Rasierer mitzunehmen und folglich schon seit 40 Jahren ohne auskommen mußte.
Deutlich zu erkennen sind diese Stammgäste übrigens auch an zwei Nummern zu kleinen Badehosen und Badeanzügen sowie abgelatschten Sandalen.
Als wäre das nicht schon mehr als man ertragen kann, fängt einer dieser senilen Bierbauchrömer lautstark an, von der "geilen Uschi" zu geifern. Die Angesprochene begrüßt ihn dann auch prompt mit einem Umarmungsversuch, der sowohl am geistigen Zustand als auch an der Leibesfülle der beiden scheitert. Das hindert sie jedoch nicht daran, sich ebenso laut über "unseren Michael" und "unseren Ralf" zu unterhalten. Ob sie sich über ihre Bekannten unterhalten?
Denkste. In Wirklichkeit ist es ihnen gelungen, die Schlagzeile der BILD-Zeitung zu entziffern. Offensichtlich fahren heute die beiden Rennfahrerklone wieder im Kreis herum.
Das vom Imbiß angebotene Essen erweist sich jedoch als von überraschend hoher Qualität. Die Salate sind frisch und knackig, auch die warmen Mahlzeiten sehen erstaunlich appetitlich aus. So wie es aussieht wird der Imbiß vom Gesundheitsamt gefördert, damit der Durchschnittsbesucher wenigstens ein paar mal im Jahr was Ordentliches zwischen die Zähne bekommt. Immer nur McDarmreiz oder Bier ist schließlich alles andere als gesund.
Etwas seltsam ist jedoch die Fertigsoße, die auf jede warme Mahlzeit gekübelt wird. In dieser schwimmen so kleine Fusseln rum, ob das wohl Pantoffeltierchen sind?
Gut gestärkt und mit Vitaminen und Kohlenhydraten versehen, begebe ich mich in das Herz des Freibades, der Liegewiese. Wie sich herausstellt, werden hier die Urtypen der Freibadbesucherklischees entwickelt.
Dazu gehören die Gruppen vorpubertärer Lausebengel mit Hosen, bei denen der Hintern auf derselben Höhe wie die Kniekehlen liegt. Diese nutzen das Freibad, um ihren Platz zunehmend mit angekokelten gelben Häufchen zu markieren, weil ihnen Mami zu Hause das Rauchen verboten hat. Dabei versuchen sie, so cool wie möglich zu wirken, was jedoch nur dazu führt, daß in ihrer Umgebung das Quecksilber völlig überläuft.
Unerwartet intelligent erweist sich jedoch eine andere Gruppe von 10-Jährigen aus dem erwähnten Stadtteil. Nicht nur, daß sie im Schatten sitzen (die meisten Freibadbesucher verrotten stattdessen wie ein vergessener Backfisch in der Sonne), nein, sie beschäftigen sich sogar auf kreative Art und Weise mit den Passanten jenseits der Umzäunung:
"He Sie!"
"Ja, Sie, hallo!"
"Was gucken Sie so blöd? Noch nie ein Freibad gesehen?"
"Hähähähähähä...."
Nun, anscheinend hab ich mich wohl geirrt.
Außerhalb des Bades fährt eine dampfgetriebene Parkeisenbahn am Freibad vorbei. Der Geruch nach halbverbrannter Kohle ist eine erfrischende Wohltat, der für einige Sekunden den penetranten Gestank nach Chlorwasser und Sonnenöl überdeckt.
Währenddessen haben die Jungs ein neues Opfer gefunden. Es handelt sich um einen weiteren Passanten, den sie dazu überreden wollen, sich in genau einem Jahr zur selben Zeit wieder am Zaun zu treffen. Immerhin, das ergibt 5 Minuten anspruchsvolle Unterhaltung!
Es ist auch weithin sichtbar, wo sich die Gruppen von Müttern mit Kindern aufhalten. Um diese herum entstehen deutlich sichtbare Sperrgebiete, deren Radius der Strecke entspricht, die die Kinder laufen können, bevor sie von ihren Müttern lauthals zurückkrakeelt oder -geschleppt werden. Sowas halten nicht einmal die anderen Freibadbesucher aus.
In meiner unmittelbaren Nähe hat sich derweil ein junges Paar eingenistet. Versehen mit T-Shirts mit der Aufschrift "Arschloch und Spaß dabei" versuchen die beiden, das nicht vorhandene Niveau der Besucher völlig ins Bodenlose zu stampfen.
Der Wettergott erweist sich endlich als gnädig und schickt als versteckte Botschaft eine leichte Sommerbrise. Von dieser gekitzelt leben die grauen Zellen auf und mein Verstand erwacht wieder.
Innerhalb kürzester Zeit den Ernst der Lage erfassend, verlasse ich fluchtartig den Ort des Grauens, gezeichnet bis an mein Lebensende.