Alte Bücher machen Klücher

Bücher können eine ganze Menge erzählen. Und damit sind zur Abwechslung nicht spannende Romane, romantische Liebesgeschichten oder vertrackte Kriminalfälle gemeint, sondern eine Art des Erzählens, die selbst einem Telefonbuch innewohnt und ohne große Worte auskommt. Allerdings besitzt nicht jedes Druckwerk diesen versteckten Charme: Leser, die ihre Bücher ausschließlich nach einigem Stöbern in der Buchhandlung auswählen (mit mehr oder weniger deutlicher Hilfe des anwesenden Bücherwurms oder Lesetante) bekommen ihn ebensowenig zu Gesicht wie Bestellungsliteraten, welche Bücher nach ausgiebiger Recherche und vierundzwanzigstündiger Versandfrist aus einem Postpaket pellen.

Stattdessen findet sich das wahre Leben zwischen den Seiten in einer ganz anderen Art von Büchern. Es sind Bücher, die im Freundeskreis ihre Runde machen, ein schweres Leben in der örtlichen Bücherei führen oder durch Zufall für einen Apfel und ein Ei aus schon völlig verstaubten Grabbelkisten entschlüpfen.

Kassenzettel

Schon allein die Vielfalt an vergessenen Lesezeichen könnte ein kleines Museum bereichern. Am häufigsten finden sich Rechnungen, meist diejenige des Buches selber, die nicht nur den Preis, sondern auch Ort und Datum des Erwerbs verrät. Geradezu skurril wirkt es, wenn der Betrag noch in D-Mark angegeben wird oder gar eine alte Postleitzahl in krummen Lettern nostalgische Gefühle weckt. Im Vergleich dazu wirken die meist schon nach einem halben Jahr völlig ausgebleichten Kassenzettel heutiger Läden trotz ihrer Geschwätzigkeit geradezu armselig. Wer weiß, ob die Bücher spontan oder gezielt gekauft wurden? Witzig ist es allemal, daß die meisten Rechnungen nur ein einziges Buch ausweisen...

Der ungleiche Bruder einer Rechnung findet sich dagegen überwiegend im Bestand von Leihbibliotheken. Als Leihzettel oder - hochoffiziell - Leihkontobeleg gibt er neben dem Abgabedatum vor allem preis, mit welchen anderen Werken der Fundort konkurrieren mußte. Meist kennt man den vorherigen Leser nicht, erfährt aber dennoch einiges: Aus einer Liste an Romanen lassen sich der Geschmack und Vorlieben erahnen, während Sachbücher ähnlichen Titels schnell auf spezielle Lebenssituationen und Hobbys hinweisen. Mitunter fallen einem dabei derart obskure oder banale Themen auf, die im Alltag sonst kaum ihren Weg in die bewußte Wahrnehmung gefunden hätten.

Eher als Müllentsorgung kann man aufgefundene Prospekte oder Notizzettel sehen. Ihre Verwendung liegt zwar nahe, aber weder die Einkaufsliste eines Durchschnittshaushalts noch unbekannte Telefonnummern sind wirklich interessant. Von der Langeweile einer Postwurfsendung, die in ähnlicher Form schon dutzendmal den eigenen Briefkasten füllte, ganz zu schweigen.

Kleeblatt

Am schönsten sind Lesezeichen frisch von Mutter Natur, wenn sich des Lesers Hand nach genossener Lektüre in frischer Luft an der Botanik vergreift und ein Grashalm, Gänseblümchen oder gar ein vierblättriges Kleeblatt zwischen die Seiten klemmt. Mit etwas Geduld hätte man bald eine schöne Sammlung an gepressten Pflanzen zusammen - allerdings nur, wenn man eine Vorliebe für Heu anstelle von Blumen und Blättern besitzt.

In weniger grünen Biotopen übernehmen hin und wieder Briefmarken den Platz der Blüten. Ob in manchen Büros lieber gelesen als gearbeitet wird? Vermutlich dürfte diese seltene Spezies vor allem außerhalb der großen Geschäftspaläste zu finden sein. Dagegen sind Geldscheine dieser Sammlung bis jetzt vollkommen fern geblieben. Anscheinend ist die Ehrfurcht vor barem Geld mindestens ebensogroß wie der Griff zum naheliegenden Portemonnaie nahe, denn an der Verfügbarkeit dieses optimalen Lesezeichen mangelt es wahrlich nicht.

Stattdessen greifen viele lieber zu einem anderen allzeit bereiten Lesezeichen, nämlich dem Buch selbst. So bestechend effizient die Idee einer umgeknickten Seite auch ist, so sehr sind diese häßlichen Eselsohren für jeden glühenden Bücherverfechter das größtmöglichste Sakrileg, das einem Buch nur wiederfahren kann. Für die dauerhafte Aufbewahrung in des Sammlers Setzkasten taugen sie ebensowenig, aber sie bieten einen anderen unumstrittenen Vorteil: Selbst bei sorgfältigstem Zurückbiegen bleiben sie unwiederruflich am Ort ihrer ersten Bestimmung. Eine ganze Versammlung geknickter Seiten verrät somit allen Nachfolgern den Lesefluß, sei er durch den spannenden Text, schwierige Sprache oder äußere Störungen beeinflußt oder auch gänzlich mittendrin abgebrochen. Tritt letzteres öfter auf, so handelt es sich wohl kaum um ein Werk, welches die Massen fesseln konnte.

Vielen Lesezeichen gelingt es, ganz bis auf die letzte Seite zu wandern. Daraus zu folgern, daß es sich um ein zu Ende gelesenes Buch handelt wäre jedoch fatal. Vielmehr kennzeichnet dies eine Gewohnheit, welche aus Ordnungsliebe oder auch nur praktischen Gründen erfolgt. Wo soll man sonst ein unscheinbares Lesezeichen schnell unterbringen und wiederfinden?

Die Lektüre eines Buches scheint viele Leser selber in kleine Autoren zu verwandeln. Anders läßt sich kaum erklären, warum gerade in Sachbüchern teilweise mehr Seiten mit Bleistift und Marker gespickt sind, als daß sich der ursprüngliche Text noch dagegen wehren könne. Dabei ist allerdings eine auffällige Trennlinie zwischen den Lesern von Sachbüchern und denen von Lehrbüchern erkennbar: Erstere streichen munter Satz für Satz die unwichtigsten Stellen als besonders bedeutend an, während Letztere fleißig Notizen, Kommentare und Korrekturen ergänzen. Für einige Möchtegernoberlehrer in der besagten Gruppe dürfte es allerdings besonders peinlich sein, wenn sie wüßten, daß ihre hochgeistigen Anmerkungen meist noch mehr Fehler beinhalten als je zuvor vorhanden waren. Dafür geben all diese Anmerkungen willkommenen Anlaß zum Nachdenken und einen breiten Einblick in die Denkweise ihres jeweiligen Urhebers.

Eher selten, aber dann meist gehäuft, sind komplett herausgerissene Seiten anzutreffen. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis verrät dann oft, ob hier ein egoistischer Souvenirjäger oder doch eher ein selbsternannter Zensurbeauftragter am Werke war.

Ein buntes Potpourri bilden die übrigen Hinterlassenschaften der begnadeten Vorleser und Vorleserinnen. So fühlen sich Kaffee, Cola und Krümel zwischen den Seiten ebenso wohl wie die plattgedrückte Fliege, welche ihr Leben zwischen dunklen Lettern beendet hat. Verknitterte Seiten deuten auf ein abenteuerliches Leben in Handtaschen und Rucksäcken in der Straßenbahn hin, während dasselbe Merkmal in Kombination mit sonnengebleichten Seiten den letzten Sommerurlaub verrät. Praktischerweise verfügen abgenutzte Bücher nie über die scharfen Kanten, mit denen so mancher Neuerwerb die eigenen Finger messerscharf in einen Satz Kiemen verwandelt. Dennoch frage ich mich manchmal, wieso sich nie blutige Flecken finden lassen, welche vom Mißgeschick eines Erstlesers abstammen sollten.

Findigen Zeitgenossen gelingt sogar die Nutzung eines Buches, ohne es zu öffnen. Der Trick besteht darin, das Werk stattdessen als Schreibunterlage zu nutzen. So prägt sich mit jedem Kringel die eigene Handschrift durch Bleistift und Kuli mitten in den Einband hinein und wird dort für die Nachwelt konserviert. Sonderlich lesbar sind diese Kopien nicht gerade, aber wer unbedingt die Lösung einer quadratischen Gleichung, einen Tip für die nächste Lottoziehung oder eine aktuelle Kontonummer braucht dürfte schnell fündig werden...

Mail an den Autor: webmeister@deinmeister.de

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